Widerstand 38/39

Orts- und Kirchengeschichte Notzingen

Materialien Vortragsabend Mittwoch 16. Oktober 2019, ARCHE- Hirschsaal
Der Hirsch in Notzingen- Widerstandsnest 1938/1939

"Reicht den Notzingern eigentlich ein Schaible nicht? Haben die eigentlich aus dem, was im Dritten Reich in diesem Ort vorging, nichts gelernt" . So der Kirchheimer Pfarrer i.R. Thilo Dinkel im Herbst 1995 in einem Flugblatt gegen den damaligen Notzinger Pfarrer Jakob Tscharntke.

Wolfgang Kalmbach, früher Dozent am Pägagogisch-Theologischen Zentrum der Evang. Landeskirche in Birkach und danach bis zu seinem Ruhestand Kirchenrat im Bildungsdezernat der Landeskirche zeichnete im Jahr 2000 Interviews auf mit zwei Zeitzeugen, die maßgeblich am Widerstand gegen die aufkommende NS-Herschaft  im Ort und in der Kirche beteiligt waren. Der damaligen Religionslehrerin Irmgard Gräter und dem damaligen SPD Vorsitzender Gottlieb Barz.

Als der Hirschsaal 2019 saniert wurde fand Kalmbach

die Zeit, in den Archiven weitere Dokumente zu sichten

und die Ereignisse genauer zu rekonstuieren.
Er stellte seine Ergebnisse in einem Vortrag am

16. Okt. 2019 im historischen Hirschsaal der Öffent-

lichkeit mit großem Interesse vor.
Wolfgang Kalmbach wird weiter an diesem Thema

arbeiten.

Hier alle Presse-Berichte und die Präsentation der Veranstaltung zum Download. Fast 90 Personen zeigten großes Interesse an diesem Thema.
Herzlichen Dank für Ihren Besuch.

In Notzingen tobte 1938/1939 ein gewaltiger Kirchenkampf. Der damalige Ortspfarrer Gustav Schaible gehörte der nationalsozialistischen Bewegung „Deutscher Christen“ an und gestaltete mit dem Ortsgruppenleiter das Kirchenleben nach Parteilinie um. Nachdem Beschwerden im Oberkirchenrat eingingen und die Situation immer schwieriger wurde, ordnete der Oberkirchenrat den Vikar Siegfried Weller, einen Mann der „Bekennenden Kirche“ nach Notzingen ab. Die Angst im Dorf war so groß, dass keine der kirchentreuen Familien in Notzingen bereit waren, dem Vikar ein Zimmer als Wohnung zu Verfügung zu stellen. Nur Gottlieb Barz in Wellingen, ein aufrechter Sozialdemokrat und mutiger Christenmensch nahm den Vikar auf. G. Barz verteilte nachts Flugblätter des Landesbischofs und hängte Hetzplakate gegen die Christen ab. Er stand deshalb auf der Liste für das Konzentrationslager Heuberg.

Was sich dann in Folge abspielte kann man sich heute nicht vorstellen. Der Nazi-Pfarrer griff den Vikar an und würgte ihn. Viele Notzinger boykottierten die Gottesdienste von DC-Pfarrer Schaible. Dennoch waren immer mehr auf Parteilinie. Schulleiter, Bürgermeister und Ortspfarrer warben für den Übertritt zu den Deutschen Christen. Als 1939, am Beginn des Jahres 36 Familien in einer Woche aus der Kirche ausgetreten waren, spürten viele, dass es so nicht weitergehen konnte. Lehrerin Irmgard Gräter, die seit 1937 in Notzingen unterrichtete, organisierte nun den Widerstand zusammen mit Vikar Weller. Beide aßen täglich im Hirsch. Immer mit dabei: Die Hirschwirtin Berta Niefer. Sie informierte alle und gab Tipps, wo sich Spitzel aufhielten. Doch sie alle mussten mit ansehen, wie die NSDAP immer mächtiger, die Angst größer und das Vorgehen gegen die Kirche massiver wurde.

Der Kirchenkampf spitzte sich zu. In Notzingen predigte Reichsbischof Müller und die Deutschen Christen reisten mit Bussen an. Wochen später Landesbischof Wurm. Dabei waren die Türen der Kirche mit Lehm verklebt. Auch Steine flogen auf Dekan Leube. Die Situation für den Vikar wurde immer gefährlicher. Auf Vorschlag der Lehrerin wurden die Kirchenbücher nach Genehmigung des Dekans in den Hirsch geschafft und dort ein Büro für den Vikar errichtet. Selbstverständlich stellte die Hirschwirtin Berta Niefer sofort kostenlos ein Zimmer zur Verfügung. Die Kirche wurde nun überwiegend vom Hirsch aus organisiert und verwaltet.

Einige waren im Oberkirchenrat vorstellig. Auch Lehrerin Irmgard Gräter fasste sich auch ein Herz und reiste nach Stuttgart. Schließlich beschloss der Kirchengemeinderat am 20. März 1939 einstimmig, dass die Stellung des Nazipfarrers in der Gemeinde unhaltbar geworden war. Im Mai 1939 wurde Pfarrer Schaible zwangsweise und vorzeitig in den Ruhestand versetzt, weil er für andere Ämter und andere Gemeinden nicht zumutbar war.

Was bleibt zurück: Viele in Notzingen haben Widerstand geleistet. Der Hirsch war die Mitte und das Zentrum. Vikar Weller und Religionslehrerin Irmgard Gräter verlobten sich noch im Juni 39.

Wolfgang Kalmbach hat in den Jahren 2000 und 2001 lange Interviews mit Irmgard Weller und Gottlieb Barz geführt und diese aufgezeichnet. An dem Abend berichtet er über diese aufwühlende und gefährliche Zeit in Notzingen. Der Vortrag findet im frisch renovierten Hirschsaal des ARCHE Wohnverbundes statt, in dem Weller und Gräter immer zu Mittag gegessen haben. Der Mut von Menschen, die die Zeichen der Zeit erkannten und Widerstand geleistet haben, soll in Erinnerung gerufen werden.